DR. WOLFGANG MAASSEN RECHT BILDER, DIE EINEN FALSCHEN EINDRUCK ERWECKEN (19) „Le Baiser de l’Hôtel de Ville“ von Robert Doisneau, 1950 Manche Fotografien zeigen die Realität zwar unverfälscht, erwecken bei dem Betrachter aber dennoch einen unzutreffenden Eindruck von dem, was auf dem Foto zu sehen ist. Der falsche Eindruck kann z.B. dadurch entstehen, dass das Foto nur scheinbar ein reales Geschehen und tatsächlich eine gestellte Szene zeigt. Ein berühmtes Beispiel ist das Foto „Le Baiser de l’Hôtel de Ville“, das der Fotograf Robert Doisneau im Jahre 1950 aufgenommen hat (Abb. 19). Die besondere Wirkung dieser Aufnahme resultiert daraus, dass die abgelich- tete Szene wie ein Schnappschuss aussieht und das Klischee von Paris als Stadt der Liebe bedient. Tatsächlich handelt es sich aber um eine gestellte Szene, für die Doisneau zwei Schauspielschüler engagiert und bezahlt hat.8 Rechtlich ist gegen die Aufnahme nichts einzuwenden. Ob es aber ethisch korrekt ist, die Betrachter des Bildes auf den Leim zu locken, ist eine andere Frage. Letzt- lich liegt das Problem allerdings bei denen, die das Klischee von der Stadt der Liebe in ihren Köpfen herumtragen und nur zu gerne bereit sind, das Foto von Doisneau als ideale optische Umsetzung dieses Klischees wahrzunehmen. Ein falscher Eindruck kann auch dadurch entstehen, dass der Betrachter die ab- gebildete Realität unzutreffend interpretiert. So wurde etwa das preisgekrönte Foto von Spencer Platt, das fünf junge Leute im August 2006 kurz nach dem Waffenstillstand zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah in einem vom Krieg zerstörten Vorort im südlichen Beirut zeigt (Abb. 20), in Europa und den USA meist so verstanden, dass ein paar gestylte junge Leute als Kriegstouristen im luxuriösen Cabrio mit schicken Sonnenbrillen und Fotohandy das Grauen besichtigen.9 In Wirklichkeit war es aber so, dass es sich nicht um Kriegstouris- ten, sondern um Bewohner des Stadtteils handelte, die sich über den Zustand ihres Hauses informieren wollten und die bei der Fahrt durch die zerstörten Straßen keinen Spaß hatten, sondern fassungslos darüber waren, was der Krieg in ihrem Viertel angerichtet hatte. Die falsche Wahrnehmung außerhalb des Libanon war der Tatsache geschuldet, dass das Cabrio, die Bekleidung, die Sonnenbrillen und das gute Aussehen der jungen Leute wegen der in der westlichen Welt üblichen Sehgewohnheiten sofort die Assoziation von Schi- ckeria, Lifestyle und Trümmertourismus auslöste, was dann eine genauere Bildbetrachtung und die Einordnung des Fotos in den richtigen inhaltlichen Kontext verhinderte. Die ethische Diskussion, die das Foto ausgelöst hat, dürf- te also eher in der vorurteilsbelasteten Wahrnehmung als in dem Foto selbst begründet sein. Bei einem anderen Foto, das Thomas Höpker am 11. September 2001 in New York aufgenommen hat, ist die Situation ähnlich. Das Bild zeigt einige junge Leute, die in einem kleinen Park in Brooklyn entspannt am Ufer des East River in der Mittagssonne sitzen, während im Hintergrund die Rauchsäule über den zerstörten Twin Towers aufsteigt (Abb. 21). Die Szene erweckt den Eindruck, als seien die jungen Leute von der Katastrophe, die sich vor ihren Augen ab- spielt und die tausende von Menschen das Leben gekostet hat, nicht weiter beeindruckt und ihr Hedonismus durch nichts zu erschüttern. Tatsächlich soll es aber so gewesen sein, dass die Personen, die auf dem Bild zu sehen sind, zum Zeitpunkt der Aufnahme ein sehr ernsthaftes Gespräch über das Attentat führten. Dass das Foto diese Realität nicht erkennbar werden lässt, sondern stattdessen den Eindruck von Abgebrühtheit und Coolness vermittelt, ist nicht mit der „Lüge des fotografischen Moments“ zu erklären, der „die Sekunden vor und nach dem Schnappschuss ignoriert“.10 Es liegt wohl eher daran, dass die entspannte Haltung der jungen Leute und die sonnenbeschienene Idylle im Vordergrund des Bildes beim Betrachter ein Wahrnehmungsraster auslöst, das der Szene eine geradezu surreale Bedeutung verleiht. Auch hier ist nicht das Foto das Problem, sondern die von eingefahrenen Sehgewohnheiten und Vorurteilen gesteuerte Wahrnehmung des Betrachters. Nicht das Bild lügt, sondern die Wahrnehmung trügt und der Fotograf hat eigentlich alles richtig gemacht. Fortsetzung im BFF-Magazin 4/2014 8Vgl. Heinick, Ein Kuss geht um die Welt, FAS vom 17.4.2005, Seite 66. 9Dazu Van Langendonck, Glamour in Trümmern, DIE ZEIT vom 1.3.2007, Seite 59. 10So ein Erklärungsversuch von Thomas Höpker in einem Interview mit PHOTONEWS, Ausgabe 2/2007, Seite 20. M MAGAZIN NO 3 163 (20) Weltbestes Pressefoto des Jahres 2006 von Spencer Platt (21) „Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan am 11. September 2001“ von Thomas Höpker