Hirn GeSPin DIE OPULENTE WELTWAHRNEHMUNG SYN VON JUDITH S Stellen Sie sich das mal vor: Schwarz ist blau. Die Zwei ist schmutzig gelb. Ein A ist lindgrün. Das Y bleigrau. Der Geschmack von Pfirsichen ist breit und läuft am oberen Ende spitz zu! Das Berühren von Jeansstoff macht Sie unendlich traurig. Fassen Sie Schleifpa- pier mit der Körnung 60 an, macht Ihnen das Schuldgefühle. E-Dur ist violett wie Veil- chen, und der Name eines Herrn Braun er- scheint Ihnen grün. Ein Schmerz in der Hüfte ist ein ockergelber Klotz. Der Dienstag ist beige. Ein Orgasmus ein strahlendes Pink wie das von Hortensien. Beim Betrachten von Per- son A erscheint ein filigranes Netz in Weiß- und der Buchstabe H ist Ihnen unsympathisch. Doch Sie irren sich. Eine bildhaft-blumige Sprache macht noch keinen Synästheten. Syn- ästheten assoziieren nicht frei in der Ge- gend herum, heute dies und morgen das. Was sie wahrnehmen, ist für sie wirklich da. Zu- sätzlich. Sie sehen, was wir sehen und etwas mehr. Da schwebt nicht etwas diffus vor ihrem geistigen Auge, sondern konkret zwischen ih- nen und dem auslösenden Reiz, oder als Halo um den Reiz herum. Sei es Buchstabe, Zahl, Empfindung, Farbe, Ton, Geruch, ein Gesicht. Es ist greifbar – und untrennbar mit die- sem Reiz verbunden. Gleichzeitig weiß der Synästhet, dass dieser Text, den Sie lesen, schwarz ist, auch wenn er jeden Buchstaben des Alphabe- tes in einer anderen Farbe sieht (was das Lesen sehr anstrengend machen kann). Jeder Synästhet erlebt etwas anderes, aber jeder Synästhet erlebt immer dieselbe, „seine“ Wahrnehmung. Wen wundert’s angesichts der Beschreibung solcher für uns unsichtbarer Phänomene, dass synästhetisch veranlagte Men- schen ihre Sensationen früher vorsichtshalber für sich be- hielten – sofern sie überhaupt wahrgenommen haben, dass ihre Wahrnehmung eine andere ist als die der anderen. Mit synästheti- schen Fähigkeiten kommt man zur Welt, ergo sind Töne, die Farben haben, umherfliegende Buchsta- ben und haptische Gerüche etwas völlig Normales. Die neurologi- schen Wissenschaften haben erst seit zirka zwanzig Jahren ein ernsthaftes Interesse an der Synästhesie – und die Mittel, ihre Existenz zu beweisen. In- zwischen erlaubt es die Medizin- technik, Gehirnaktivität sicht- bar zu machen, und raffinierte Testmethoden schließen aus, dass Synästhesie eine Erfindung fantasievoller, metaphernbegabter Menschen ist, die sich in- teressant machen wollen. Synästhesie wurde bis vor nicht allzu langer Zeit für eine Ausprägung von Schizophrenie gehalten, für Halluzinationen aufgrund des Missbrauchs un- erlaubter Substanzen oder für eine beginnen- de Psychose. Oft wurden die Menschen, die an Synästhesie „litten“, in Anstalten ge- sperrt. Heute würde kein Neurologe oder Psy- chiater, geschweige denn ein Synästhetiker selbst, sagen, man leide an Synästhesie, im Gegenteil. Synästheten empfinden die Opulenz ihrer Wahrnehmung in der Regel als große Be- reicherung, als hilfreich, als unterhaltsam, als inspirierend und beglückend. Blau als kalt zu empfinden ist ja längst nicht so ori- ginell, als wenn es nach Himbeeren schmeckt, Abb. 1 Musik hat für David Hockney Farben und Linien. Es kamen tolle Bühnenbilder für Musik von Strawinsky dabei heraus. gelb zwischen ihr und Ihnen, vor der Person B wabert ein feuchter Klumpen in lehmigem Braun. Vor einem Synästheten tut sich eine vollkommen andere, andersfarbige, andersrie- chende, andersklingende, eine übervolle Welt auf, neben der die Welt eines herkömmlichen Ästheten – Ihnen und mir – falb, eindimensi- onal und leer erscheint. Wenn ein einziger Sinnesreiz, manchmal reicht auch die Vor- stellung eines Reizes, eine Vielfalt an Emp- findungen auslöst, dann ist das Synästhesie. Jetzt möchten Sie einwenden, das beeindrucke Sie wenig, denn Sie sind schließlich selbst ein höchst empfindsamer, feinstfühliger und mitfühlender Mensch: Sie weinen im Kino, empfinden Blau als kalt, Sie können Klang- farben unterscheiden, beim Anblick von XY wird Ihnen warm um Herz und Leistengegend, sich anfühlt wie nasse Seife und klingt wie eine Klarinette. Unter Psychopharmaka ver- schwinden synästhetische Wahrnehmungen oft, was beispielsweise depressive Synästhetiker, denen man Lorazepam oder Prozac verschrieben hat, zuweilen unglücklicher macht als ihre Depression: Sie fühlen sich des Sinneszau- bers beraubt und ihre Welt sieht nun wirk- lich grau und freudlos aus. Das Wort Hirngespinst ist, bei allem Respekt, dennoch keine schlechte Beschreibung für eine Synästhesie. Unver- schämt verkürzt dargestellt, passiert nämlich Folgendes: Areale des Gehirns, die nor- malerweise klar voneinander abgegrenzt sind und eng de- finierte, sich nicht über- schneidende Sinneswahrneh- mungsaufgaben erfüllen, sind aufgrund einer genetischen Veränderung miteinander ver- netzt. Wenn zum Beispiel das für die Erkennung von Far- ben zuständige Areal mit dem für Spracherkennung zuständi- gen verbunden ist, bekommen Buchstaben eine Farbe. Die Einteilung in enge Hoheits- gebiete im Gehirn ist eigent- lich ein Schutzmechanismus, denn durch die Grenzen kommt es so schnell nicht zu ei- nem Totalausfall. Nach einem Schlaganfall kann ein Patient zum Beispiel Zahlen erkennen, aber die einfachsten Rechen- aufgaben nicht mehr, weil Re- chenaufgaben ein anderes Büro erledigt. Abb. 2 Nabokovs „Lolita“ beginnt synästhetisch: Vladimir Synästhesie wird vererbt und deshalb kommen sogar so anschauliche Beispiele dabei heraus wie bei dem Schrift- steller Nabokov (Abb. 2), dessen ganze Sippe sich an der Synästhesie-Vari- ante Buchstaben-Farben-Sehen erfreute: Für Nabokov war der Buchstabe M blau, für seine Frau rosa und vor den Augen seines Sohnes erschien er in perfekter Mi- schung als flaues Flieder. Sein Vater sah das K gelb, seine Mutter rot, seines war orange – als ob „die Gene in Aquarell malen“. Na- bokov (den zu lesen allen, die es noch nicht getan haben, übrigens dringend in Alarmrot angeraten sei) scheint geradezu verliebt in seine Synästhesie gewesen zu sein. In sei- ner Autobiografie schreibt er: „Zu alledem kommt, dass ich einen guten Fall von audi- tion colorée, von Farbenhören abgebe. ‚Hö- ren‘ ist vielleicht nicht das ganz richtige Wort, denn die Farbempfindung scheint da-