Verliehen wurden die Preise am 10. Januar 2014 in Stuttgart im Haus der Wirtschaft Baden-Württemberg anlässlich der Eröffnung der Ausstellung mit den ausgezeichneten Arbeiten der fünf Preisträger.

Laudatio

Prof. Manfred Schmalriede / Mitglied der Jury

Benjamin Zibner „Rites de Passage“

Ein Arbeitsfeld der Ethnologen ist der Alltag der Menschen. In der modernen Massengesellschaft ist das einst prägende Verhalten einzelner Gruppen nivelliert, so dass für jeden Einzelnen die Frage entsteht, wie er sich in der Gesellschaft orientieren und organisieren kann. Durch die soziale Umgebung gelernte Normen des Verhaltens sind durchaus noch relevant. Doch vor allem Jugendliche versuchen diese Normen zu brechen, um ein eigenes Regelsystem zu schaffen, in dem sie und ihre Zeitgenossen eine vertraute Welt des Handelns zur Verfügung haben. Ihnen ist eine Basis der Identifikation wichtig, die ihnen die Möglichkeit gibt, sich von anderen wie den Erwachsenen abzusetzen, dennoch ein sicheres Verhalten ihnen gegenüber an den Tag zu legen. Die notwendigen Differenzierungen unter den Jugendlichen spielen sich unter ähnlichen Verhältnissen ab. Unter Freunden ist das Verhalten anders als fremden Jugendlichen gegenüber. Gruppen von Schülern oder Studenten verhalten sich anders als Mitglieder einer Gang.

Verhaltensformen und Gesten entstehen aus Agieren und Reagieren, sind ein Produkt eigenen Verhaltens und den Reaktionen anderer, die auf das Verhalten reagieren. Sich zu verhalten, erleben wir am eigenen Körper, bestimmt unser physiognomisches Erscheinungsbild und wird von den Menschen in unserer Umgebung so wahrgenommen. Eine spezielle Form der Kommunikation, die zur Grundlage unserer sozialen Beziehungen gehört. Gerade uns fremde Menschen beurteilen wir nach ihrem Aussehen, ihren Bewegungen und Gesten. Unsere Beziehungen zu anderen Menschen und zu unserer Umgebung organisieren sich auf diese Weise. Erst eine genauere Beobachtung aus wissenschaftlichem Interesse führt zu Differenzierungen und Typisierungen, die unser gesellschaftliches Verhalten strukturieren.

Benjamin Zibner bezieht sich auf die Ethnologie. „Der Titel Rites de Passage ist ein Fachbegriff, der auf das gleichnamige Werk des Ethnologen van Gennep von 1909 zurückgeht. Gennep war der Auffassung, dass die Übergänge von Zustands-, Positions-, Status- und Altersgruppenwechsel an Riten gebunden ist.“ In seinen theoretischen Erörterungen lotet Zibner Möglichkeiten aus, solche Riten von Jugendlichen im öffentlichen Raum mit den Mitteln der Fotografie zu beobachten. Fotografie ist das Medium, aus dem Kontinuum des Lebens Momente herauszuschneiden, die wir als besondere Formen des Verhaltens, der Gesten und Mimik erleben. Fotografische Bilder vom Menschen sind letztlich auf Charakteristisches in seinem Erscheinungsbild zurückzuführen. Dass in vielen Fotografien überzeugende Stringenz fehlt, hat vielerlei Gründe. Einer davon ist die fehlende Aufmerksamkeit für eine überzeugende Figuration. In den vielen Familienfotos, die überall auf der Welt gemacht werden, sind die Orte und Ereignisse privater Erlebnisse wichtiger als eine besondere Erscheinung der fotografierten Person. Oder: die Menschen, die sich fotografieren lassen, wählen selbst eine Pose, mit der sie sich für die Verewigung präsentieren. Fotografien vom Menschen sind auch Thema in der Reportagefotografie. Das Repertoire möglicher Figurationen wird dort wesentlich von den Ereignissen geprägt. Die Phänomene werden durch Handlungen erzeugt, so dass durch die Identifikation von Fragmenten der Handlungen diese selbst rekonstruiert werden können. Entscheidend dabei ist unsere Fähigkeit, etwas als etwas zu identifizieren. Wenn in der Fotografie alles, was wir sehen, einem tatsächlichen Ereignis entspricht, dann kommt es darauf an, ein solches Einzelereignis zu verallgemeinern, um es als typisch für irgendetwas sehen zu können. Zibner ist es gelungen, selbst in einfachen Szenen etwas Typisches aufzuspüren. Anders formuliert: Solche Szenen oder Situationen bestätigen oder konkretisieren etwas, was wir auf irgendeine Art im öffentlichen Verhalten junger Menschen schon gesehen haben. Die Serie von Bildern bietet dabei die Möglichkeit, im Kontext des schon Bekannten neue Phänomene zu entdecken. Zibner verzichtet auf Inszenierungen, ist also selbst immer auf der Suche nach identifizierbarem Verhalten und lesbaren Gesten, nach modischen Attitüden, modischem Outfit und erkennbaren Rollen. Dies alles bleibt auf visuelle Phänomene beschränkt. Doch mit den Bildern lassen sich im Vergleich Ähnlichkeiten und Unterschiede aufzeigen. Phänomene, an unterschiedlichen Orten wahrgenommen, können nebeneinander betrachtet werden und aus den einzelnen Gesten lassen sich über die Ähnlichkeit Standards ermitteln. Erst so können zeitgenössische Verhaltensmuster entstehen. Zibner hat die Jugendlichen mit ihrem Wissen auf der Straße fotografiert. Doch der Fotograf hat Situationen gewählt, deren Abläufe so nicht geplant sein können. Entscheidender ist, dass er die möglichen Formen des Verhaltens als vage Bilder in seiner Vorstellung hatte und als Hypothese auf die Ereignisse projiziert hat. Und jedes gelungene Bild wurde zum Beleg seiner Hypothesen. Bevor Fotografien auf die Wirklichkeit bezogen, konkret geworden sind, bestehen sie aus Möglichkeiten, deren Realisierung wir als Fotografie betrachten. Als Betrachter übersehen wir häufig diesen Status der Möglichkeit. Doch auch für uns implizieren Bilder diese Potenzialität, denn die damit verbundene Offenheit der Bilder ist Voraussetzung für ihren Gebrauch als Reportage, als wissenschaftliche Dokumentation im Bereich des Journalismus, der Soziologie oder der Ethnologie. Künstlerische Fotografie entsteht nur über den Status des Möglichen, denn hier bietet die einfache Gegenwart des Bildes seine ästhetische Komponente, die allzu schnell hinter dem Realitätsbezug verschwindet.


Sebastian Keitel „Provisonal Installations“

Folgen wir der kurzen Projektbeschreibung des Fotografen, dann sind ihm zwei Aspekte von besonderer Bedeutung. Zum einen sind es die sich immer weiter ausbreitenden Slums in den Megastädten der Entwicklungsländer und zum anderen die damit verbundenen Wohnverhältnisse. Ein Nebeneffekt in diesem Projekt oder ein nicht zu übersehender Aspekt der Dokumentation wird in der Feststellung von Sebastian Keitel deutlich, dass sich die Menschen bemühen, auch unter schwierigen Bedingungen ihre Behausungen wohnlich einzurichten.

Keitel hat in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesh, fotografiert, ein Ort, der vielen anderen Orten auf der Welt ähnelt, und das bedeutet, die hier gezeigten Behausungen sind typisch für die Lebensverhältnisse vieler Millionen Menschen. Diesen Schluss hat Keitel offensichtlich aufgrund seiner Kenntnis solcher Verhältnisse gezogen. Seine Fotografien beziehen sich ausschließlich auf Slums in Bangladesh. Was wird hier dokumentiert? Beim Fotografieren geht es immer um ein einzelnes Ereignis vor der Kamera, es ist ein bestimmtes Ereignis, das durch das Bild zum Faktum wird. Die Entscheidung, an einem ausgewählten Ort ein Foto zu machen, setzt eine Idee voraus, die als mehr oder minder konkrete Vorstellung vorhanden ist. Die Idee, in Slums zu fotografieren, ist sehr allgemein und manchmal sicherlich auch vage, wird aber durch die folgenden Bilder immer konkreter. Fügen wir noch hinzu, dass der Fotograf mit seinen Bildern auf die Wohnverhältnisse in armen Ländern aufmerksam machen möchte, dann bekommen die Fotografien vor diesem Hintergrund eine besondere Bedeutung. Die Einzelereignisse illustrieren eine allgemeine Idee vom Wohnen. In Kenntnis des Projekts kann der Betrachter ähnlich mit den Bildern verfahren, wenn die einzelnen Aufnahmen unter dem Thema „wohnen“ zusammengefasst werden. Dennoch: die Serie der Bilder aus Dhaka verschafft uns Einblick in konkrete Wohnungen mit ihren Bewohnern. Wir studieren aufmerksam die Räume, die Menschen und die unterschiedlichen Gegenstände, konstatieren die Kunst der Bewohner zu improvisieren und den offensichtlichen Hang zum Sammeln all dessen, was möglicherweise noch gebraucht werden kann. Der Blick in die Räume folgt einem Schema: In der Regel wird in eine Ecke hinein oder mit Blick auf die Rückwand des Raumes fotografiert. Dadurch entsteht der Eindruck, wir blickten in eine Bühne und die Räume seien hinter uns offen. Diese Standardsituation hat zur Folge, dass Menschen in den Räumen frontal vor der Kamera stehen und sich und ihre Behausung präsentieren. Nicht in allen Räumen sind erwachsene Menschen zu sehen. Häufig sind Kinder in der Wohnung, die, da sie in der Regel irgendwo liegen, nicht sofort entdeckt werden. Sie scheinen wie die vielen Dinge Bestandteile der Wohnung zu sein. Doch bevor die vielen Dinge konkrete Gestalt annehmen, fällt ihre Farbigkeit, ihre Buntheit ins Auge. Da eine Menge Dinge in den Räumen Platz gefunden haben, entstehen unterschiedliche, dennoch ähnliche farbige Muster. Dieses Nebenprodukt lenkt ab von den Dingen und von ihrem Gebrauchswert, gibt dem Ganzen aber eine auf das Visuelle hin orientierte Ordnung, die überraschend westlich aussieht und uns in die Nähe der abstrakten Kunst bringt. Ein europäischer Blick als Ordnung stiftendes Phänomen, das sich dann auch so interpretieren lässt: „Darüber hinaus erzählen die Fotografien von dem Streben des Menschen, sich auch unter extremen Bedingungen wohnlich einzurichten.“ (Sebastian Keitel) Trotz Unübersichtlichkeit in der Ansammlung so vieler Dinge, scheint sich auf einer ästhetischen Ebene Ordnung einzustellen. Die immer ähnliche Position der Kamera und die farbigen Muster lassen eine Serie entstehen, die in zweifacher Hinsicht interpretiert werden kann. Die Reihe der Bilder ließe sich beliebig fortsetzen, und damit würden die Wohnverhältnisse an immer anderen Beispielen belegt werden. Die ästhetische Sehweise scheint von diesen Problemen abzulenken, weil sie sich nur auf die Oberfläche einlässt. Doch bei genauer Betrachtung erweist sich das fotografische Bild eben als solche Oberfläche, die nur Farben und Formen präsentieren kann, so dass es unsere Aufgabe ist, die Dinge zu identifizieren. Eine Bildordnung gibt es nur auf dieser Ebene. Die Beziehungen der Menschen und Dinge untereinander machen andere Ordnungen möglich. Etwas als Behausung oder Wohnung zu bezeichnen, setzt ein System von Beziehungen unter den Dingen voraus, die wir bereit sind, als zu einer Wohnung gehörend zu identifizieren. Welche Basis zur Identifikation wir wählen, hängt von unserer Vorstellung ab, mit der wir uns den Bildern nähern. Unter dem Begriff „Slum“ erwarten wir eher einen Zustand des Chaos, abgenutzte Gegenstände, Anhäufung von Fundsachen, die für irgendetwas nützlich sein könnten. Armut kann im Mangel an Dingen sichtbar werden. Die Bilder ärmlicher Verhältnisse fassen wir unter Slum zusammen. Demgegenüber sind viele der Bilder von Keitel durch die Überfülle von Dingen so unübersichtlich, dass, bevor Einzelnes entdeckt wird, die kleinen Form- und Farbteile dominieren und die Basis ästhetischer Betrachtung liefern. Letzteres setzt allerdings voraus, dass uns solche Muster aus unserem Alltag oder aus der Kunst vertraut sind. Unter diesem Aspekt reden wir auch über die Organisation der Bilder im Sinne von Komposition oder De-Komposition. Angesichts der Problematik menschenwürdigen Wohnens in den immer weiter wachsenden Megastädten scheint das Ästhetische fehl am Platz. Doch die Ähnlichkeit der Bilder untereinander machen deutlich, wie Sebastian Keitel dem Ästhetischen hinsichtlich seiner Position den Behausungen gegenüber gefolgt ist. Der streng eingehaltene Standard erst macht eine Typisierung möglich, die in Serien von Bildern sichtbar wird.


Paul Koncewicz „Paul/PAWEL“

Unter dem Titel PAUL/PAWEL hat Paul Koncewicz zwei Familienalben konzipiert. Schon bald nach seiner Geburt hatten sich seine Eltern, die zunächst in Stettin lebten, getrennt. Sein Vater war nach erneuter Heirat in Polen aufs Land gezogen und seine Mutter, ebenfalls wieder verheiratet, später nach Deutschland gegangen. Dadurch entstanden zwei Familien, in denen Kinder jeweils einen leiblichen Vater und einen Stiefvater hatten. Paul Koncewicz hat schon früh mit dem Fotografieren seiner Familie begonnen und für dieses Projekt konnte er auf eigene Fotografien und auf schon vorhandene Familienalben zurückgreifen. Familienfotos haben eine lange Tradition und die dazu angelegten Alben sind ein wichtiger Ordnungsfaktor. Vor allem die chronologische Folge macht es möglich, den Gang der Familiengeschichte nachzuvollziehen. Standards wie Porträts der einzelnen Familienmitglieder und Gruppenfotos der Kinder, der Eltern, der Familie, der Verwandten haben zur Folge, dass Familienalben sich untereinander ähneln. Dazu kommen die kleinen Spielräume der Kinder, der Sandkasten, der erste Schnee und die Lieblingsobjekte, oft im Zusammenhang mit Geburtstagen und anderen Festen. Die großen Feste zu Weihnachten, zu Ostern, die Rituale zur Konfirmation, Kommunion oder zu Hochzeiten markieren Höhepunkte im familiären Leben. Daraus ergeben sich Konstellationen in Form von Beziehungen, die uns ermöglichen, auch Fotografien fremder Menschen zu interpretieren. Doch wir spüren die Grenzen, wenn es um die Identifikation einzelner Personen geht. Wir treffen auf einen privaten Bereich, der uns verschlossen ist. Wir erkennen wesentlich Typisches, ohne den einzelnen Menschen zu kennen. Wir sehen eine Frau, einen Mann oder einen Weihnachtsbaum und vermuten, dass eine Mutter und ein Vater mit den Kindern vor dem Weihnachtsbaum stehen. Ein ganz spezielles Problem der Fotografie. Familienfotografie basiert auf dem Privaten und ist gerade deswegen so weit verbreitet.
In unserem Falle hat der Fotograf mit seinem Projekt versucht, die Familie seines leiblichen Vaters besser kennenzulernen, sie gewissermaßen in seine Familie zu integrieren. Das könnte heißen, die losen Beziehungen zu festigen, und dazu trägt nicht nur die tatsächliche Nähe bei, sondern auch die im Bild manifesten Beziehungen, die durch die Standards der Familienbilder sichtbar werden. Die Mutter mit der Tochter, dem Sohn oder mit beiden und der Vater mit dem Sohn und ähnliche Kombinationen. Bilder präsentieren mehr oder minder offensichtlich Beziehungen der Menschen oder Dinge untereinander. Aus diesen Beziehungen leiten wir Bedeutungen ab. Bleibt alles im privaten Zirkel, dann ist der Umfang an Bedeutung größer als der Blick eines Fremden je erreichen könnte.

Doch die Neugierde, zunächst unbefriedigt, könnte noch ein wenig mehr erreichen. Denn auch der fremde Blick sucht Beziehungen zu ergründen. Bilder, zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, zeigen etwas vom Größer- und Älterwerden der Menschen. Wir entdecken über die Ähnlichkeit der Physiognomie die einzelnen Menschen als Kinder, Jugendliche und Erwachsene, wir werden auf diese Weise vertraut mit ihnen und finden Interesse daran, der Person durch die beiden Alben zu folgen, eine Geschichte zu erzählen, die schon trägt, sobald sie uns plausibel erscheint. Nimmt man die einleitenden Worte zu den beiden Alben von Petra Herbert hinzu, dann wird unsere Geschichte noch plastischer.

Die Informationen des Textes führen noch auf eine andere Ebene. Gehen wir davon aus, dass Familienfotos bestimmten Standards folgen, dann ist es fast selbstverständlich, dass Fotos, die aus der Begegnung mit der Familie in Polen entstanden sind, vom Fotografen inszeniert worden sind. Anknüpfend an Vorbilder entstehen Bilder, die so interpretiert werden, wie wir es gewohnt sind. Doch bleibt Spielraum, alles ein wenig ironisch zu brechen und durch kleine Inszenierungen mit den Menschen und ihrer Umgebung die Normalität in den Bereich des Nonsens abdriften zu lassen. Die Mischung aus Archivmaterial und eigenen Bildern macht ähnliche Brüche sichtbar. Durch diese Mischung werden große Zeitsprünge möglich, die einzelne Personen als Kind und Erwachsene zeigen. Diese elementare Funktion der Fotografie, alles orts- und zeitgebunden zu konservieren, macht es möglich, mit den Wirklichkeiten zu spielen, mit ihnen Geschichten zu erzählen, aber ebenso Geschichte zu erfinden. Die realen Zeiträume verschwinden, schrumpfen oder dehnen sich, um auf diese Weise die Chronologie zu erhalten, aber die konkrete Zeit auszublenden. Oder anders formuliert: Vergangenheit wird Gegenwart, denn alles Vergangene ist gegenwärtig, wenn ich es betrachte.


Carlotta Poloni „Demens“ (lat. ‚ohne Geist‘)

Um unser Wissen zu organisieren, greifen wir häufig zu einem Fachbuch. Von der Grundschule her sind wir gewohnt, lesend die Welt zu verstehen. Neben Texten sind es Bilder, die unbekannte Zusammenhänge klären helfen und die Welt anschaulich machen. Oft ist es so, dass Bilder Textpassagen lediglich illustrieren und ohne Text nicht wirklich zu entschlüsseln sind. Fotografien beziehen sich auf einzelne Ereignisse, wogegen mit Texten allgemeine Aussagen möglich sind, mit denen über die konkreten Dinge hinaus allgemeine Beschreibungen oder Gesetze formuliert werden können. Lehrbücher verwenden daher oft Zeichnungen, die auf abstrahierender Ebene konkrete Ereignisse auf Schemata oder Diagramme reduzieren.

„Das Buch »demens« verkörpert den Versuch, die Alzheimer Krankheit objektiv, ausführlich und verständlich zu visualisieren. Dafür werden emotionale und abstrakte Bilder, objektive und praktische Informationen, einige Diagnose-Verfahren und Zitate einiger an Alzheimer Erkrankten zusammengefügt. So beschreibt Carlotta Poloni ihr Projekt. Visualisieren bedeutet, die Bilder übernehmen die Aufgabe, uns ein Bild von Demenz zu vermitteln.

Die gesellschaftliche Aufgabe, einer weitverbreiteten Krankheit die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken, um die Krankheit rechtzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln, setzt Aufklärung und Wissen voraus. Derartige Aufklärung zu leisten, scheint unter jüngeren Menschen durchaus ein Bedürfnis zu sein, denn unter früheren Teilnehmern am BFF-Wettbewerb gab es Versuche, das sich durch Demenz verändernde Verhalten der Menschen fotografisch zu dokumentieren.

Carlotta Poloni geht einen anderen Weg. Sie arbeitet mit dem Verlauf der Krankheit und listet nach der Diagnose die wichtigsten Stadien anhand von Fachbegriffen auf. Die Begriffe werden kurz kommentiert und mit Aussagen von Kranken ergänzt. Diese Aussagen bekommen einen besonderen Status, denn sie zeigen etwas von den Befindlichkeiten der Menschen, die ihren sich verändernden Zustand so lange wie möglich beobachten und mit ihrem einst normalen Leben vergleichen. So scheint die Krankheit mit Depression und Apathie zu beginnen. Die Bemerkung eines Betroffenen dazu: „Es ist wirklich so … ein halbiertes Leben … Es ist eine leblose Existenz – Ich sag es euch.“ Und was ist in dieser Phase zu tun? „Ermutigt werden, sich bewegen, nicht ausgeschlossen werden, sich nützlich fühlen.“ Dann folgen weitere Phasen: Angst, Amnesie, Wahrnehmungsstörung, Desorientierung, Agnosie und Aphasie, Anomie und Paraphasie, Apraxie, nonverbale Kommunikation, Identitätsverlust, Prosopagnosie, Unbeweglichkeit, Abhängigkeit. Die Auflistung der Fachbegriffe und ihre kurzen Erklärungen haben wissenschaftlichen Charakter und sind dennoch hinsichtlich des Befindens der betroffenen Menschen prägnant in ihrer Diktion. Dazu immer wieder die persönliche Sichtweise, so dass die Beobachtung der Menschen durch ihre Innenansichten ergänzt wird. Diese zwei Sichten als Basis ihrer Arbeit führt Carlotta Poloni zu einer speziellen Welt der Bilder. Sie schreibt: „Ein wichtiges Merkmal dieses Projektes ist die Visualisierung der Alzheimer-Krankheit anhand abstrakter und künstlerischer Bilder. “Alle Bilder sind als Fotogramme konzipiert, auf denen immer nur Reste einer identifizierbaren Welt auftauchen. Weder Menschen noch ihre Umgebung sind zu sehen, sondern eher Schatten, formlose Formen, Strukturen, Raster, Nebulöses. Warum „illustriert“ Carlotta Poloni ein Phänomen, das Gegenstand einer Aufklärung sein soll mit abstrakten Bildern? Ihre Antwort: „Die Fotogramme spiegeln die Trübung und Farblosigkeit vom Leben der an Alzheimer Erkrankten wider.“ Und dann fügt sie hinzu: „Im Vergleich zu Nahaufnahmen alzheimerkranker Menschen und ihrer Umgebung führen Fotogramme den Betrachter sanfter und auf subtilere Weise in die Gefühle ein, welche von der Erkrankung ausgelöst werden.“ Entspricht das Abstrakte der immer gegenstandsloser werdenden Gedankenwelt? Bleibt am Ende nichts übrig als grauer Nebel? Die Außenbeziehungen zu Dingen, zu Menschen werden immer weniger und auch die Innenwelt verliert Dimensionen. Erinnerungen verblassen, Gegenwärtiges wird kaum noch registriert. Die Logik des Alltags ist nur noch in schwachen Spuren auszumachen. Wie nehmen Betroffene das Verschwinden wahr? Zitate an Demenz erkrankter Menschen, die Carlotta Poloni dem Verlauf der Krankheit entsprechend wiedergibt, lassen ahnen, wie das Vorstellungsvermögen sich reduziert. Eine andere Komponente läuft dazu parallel. Wie in einem Fachbuch zur möglichen Therapie der Krankheit, platziert sie einfache Tests, mit denen ältere Menschen konfrontiert werden, die dem Leser die Möglichkeit bieten, sein Gedächtnis und die Gewohnheiten seines alltäglichen Tuns zu testen. Das Vergessen einfachster Dinge wird dabei zum wichtigen Testfall.

Die abstrakten Bilder könnten so Stadien einer fortschreitenden Reduktion sein. Sie wären dann Bilder konkreter Zustände. Sie können aber auch als Metaphern interpretiert werden, um etwas darzustellen, was eigentlich nicht darstellbar ist. In den Fotogrammen sind Dinge, die direkt auf dem Fotopapier liegen, scharf abgebildet, und in größerer Distanz werden Konturen unscharf, scheinen sich im diffusen Raum aufzulösen. Das könnten Bilder vom Prozess des Vergessens sein.

Fotogramme sind wie Schwarzweißnegative: Das Helldunkel, die Graustufen in den Bildern weichen von dem normalen Erscheinungsbild unserer Umgebung ab. Sie ähneln Röntgenbildern und sind auf diese Art ein Blick ins Innere des Menschen. Auch hier sind es Metaphern des Inneren, denn jeder weiß, dass es so nicht in unserem Inneren aussieht. Dennoch lassen sie etwas von dem physischen und psychischen Befinden anderer Menschen ahnen.


Fabian Weiß „Wolfskinder“ Child and Youth Services in Germany

Fabian Weiß hat an der University of the Arts London studiert und hier seine Arbeit für den Master of Arts vorgelegt. Bemerkenswert sind die Kriterien für die theoretische Arbeit und die Beziehung zwischen Theorie und Praxis. In der Aufgabenstellung heißt es: „Der Evaluationsbericht muss eine akademische Strenge und einen wissenschaftlichen Ansatz widerspiegeln und sollte die Ergebnisse der eigenen Arbeit kritisch bewerten und sie in Kontext zur zeitgenössischen fotografischen Praxis setzen.“

Ein ungewöhnliches Projekt: Fabian Weiß hat in Deutschland Institutionen aus der Kinder- und Jugendhilfe aufgesucht, um den Alltag der dort betreuten Kinder und Jugendlichen zu dokumentieren. In dem theoretischen Teil seines Projekts gibt er einen Einblick in die unterschiedlichen Einrichtungen und ihre Entwicklung. Wolfskinder nennt er sein Projekt. Ein Begriff aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, mit dem Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern aufwuchsen, bezeichnet wurden. Sein Interesse gilt den Kindern und Jugendlichen, die in Heimen untergebracht sind und getrennt von Eltern und Geschwistern den Programmen der Institution entsprechend aufwachsen. Als „teilnehmender Beobachter“ hat Weiß sich den Jugendlichen genähert und erst zu fotografieren begonnen, wenn seine Anwesenheit kaum noch auffiel. Sein Ziel war, seine Erfahrungen fotografisch auf einem Niveau zu dokumentieren, das den Vergleich mit einer wissenschaftlichen Arbeit möglich machen sollte. Anhand persönlicher Schicksale versucht er einen Einblick in die Methoden der Erziehung zu ermöglichen. Dazu war es notwendig, die fotografischen Bilder in einen Kontext zu setzen, der ihre Interpretation auf das Funktionieren solcher der Institutionen lenkte. Durch Dokumente, Briefe und andere Textfragmente erhalten die Betrachter die Möglichkeit, mehr über die Schwierigkeiten der jungen Menschen zu erfahren. In einem handlichen Format hat Weiß die Fotografien und Texte zu einem Buch zusammengefasst, das nicht ohne Absicht an ein Tagebuch erinnert. Neben den im Faksimile wiedergegebenen Briefen und Notizen sind weitere Texte der Betroffenen einbezogen. Diese Konzeption lässt vermuten, dass Weiß die Fotografien für allgemeine Aussagen nicht ohne Weiteres verwenden konnte. Aus den Texten erfahren wir etwas über die Befindlichkeit und die Lebensverhältnisse der Betroffenen. Etwas, was über Bilder nicht in Erfahrung gebracht wird. Fotografien bleiben Außenansichten.

Was leistet die Fotografie? Diese Frage theoretisch zu beantworten, führt schnell an Grenzen. Nur der Gebrauch der Bilder kann den Beweis sinnvoller Funktion liefern. Die theoretischen Erörterungen des Projekts führen zu einem methodischen Vorgehen, die Texte der Jugendlichen zu interpretieren. Die Texte sind unterschiedlicher Art. Sie bestehen aus Aussagen der Betroffenen, Briefen mit ihren Wünschen und Problemen an die Eltern, Beschreibungen der Kinder und Jugendlichen, von Situationen und Ereignissen oder Zitaten aus dem Regelwerk einer Jugendarrestanstalt. Fabian Weiß hat die Kinder und Jugendlichen beobachtet, bei ihren Gesprächen zugehört und in kleinen Interviews gezielt gefragt. Er glaubt, auf größeres Verständnis bei den Kids gestoßen zu sein, als die Betreuer und Sozialarbeiter. Dieser Vorschuss an Vertrauen ist offensichtlich die Voraussetzung dafür, etwas über das Leben dieser Menschen zu erfahren. Sein Ziel war, diese Erfahrung in oder mit Bildern sichtbar zu machen. Er beobachtet ihr tägliches Leben, ohne dieses bis in Details zu dokumentieren. Viel wichtiger ist für ihn am Ende die Einsicht, dass diesen Kindern und Jugendlichen die Liebe und Sorge ihrer Eltern fehlt. Weiß unterscheidet zwischen formalen Porträts und spontan und emotional bedingten Schnappschüssen. Die Protagonisten schauen in die Kamera und die begleitenden Texte sind unmittelbare Aussagen, so, als würden sie mit uns reden. Bei den Schnappschüssen scheinen sie den anwesenden Fotografen gar nicht zu bemerken. Auffällig ist in manchen Bildern die Umgebung: wir sind auf dem Land, für die Erziehung offensichtlich ein bewusst gewähltes Ambiente. Durch die Fotografien ist, wenn auch ausschnitthaft, die Umgebung sehr präsent und so auch die Jugendlichen. Doch geht es Weiß um die Verallgemeinerung der singulär auftretenden Phänomene. Stößt die Fotografie hier an Grenzen? Mit fotografischen Bildern lassen sich allgemeine Aussagen nicht formulieren. Dafür setzen wir unsere Sprache ein. Die konkreten Situationen, die wir auf den Bildern ausmachen, sind exemplarisch für das Verhalten der Jugendlichen, aber auch für die Institutionen, in denen die Jugendlichen eine wichtige Phase ihres Lebens verbringen. Die Fotografien erfüllen in zwei Richtungen ihre Funktion: sie beziehen sich auf die Umgebung, in der sie entstanden sind und sie beziehen sich auf die Texte im Buch. Da die Umgebung nicht durch Orte und Namen fixiert ist, tritt der Bezug zwischen den Bildern und Texten in den Vordergrund. Auf dieser Ebene lösen sich die fotografischen Bilder von den Gegebenheiten vor der Kamera und lassen sich als Aussagen über die Jugendlichen und die Institutionen interpretieren.